Richtiges Phrasieren, d. h. interpretierendes Verdeutlichen der zusammengehörigen Sinnglieder im musikalischen Gesamtablauf, ist mehr als das Atmen an der jeweils richtigen Stelle. Es beinhaltet vor allem den Umstand, daß innerhalb einer lebendig gestalteten Phrase so gut wie kein Ton dem anderen hinsichtlich Stärke und Intensität gleich ist, ein Gestalten, welches jedoch das genaue Erfassen des organischen Auf und Ab der jeweiligen Phrase voraussetzt.
Dieser Umstand ist für den erfahrenen Musiker nichts unbedingt Neues. Instinktiv erfaßt er musikalische Sinnzusammenhänge, um die von ihm zum Leben erweckten Noten in eine vom Hörer nachvollziehbare Ordnung zu bringen. Wo aber kann der angehende Instrumentalist die Kunst der Phrasierung, die ja nichts anderes meint, als was man im Allgemeinen mit dem recht unscharfen Begriff „Musikalität“ bezeichnet, studieren? Am besten natürlich bei den Sängern bzw. an ihrer Literatur.
Vokalmusik zeigt ihre Besonderheit u. a. darin, daß sich die musikalischen Phrasen nach den Gegebenheiten des Textes zu richten haben, wenn sie verstanden werden will, wobei die drei Parameter Melodie, Harmonie und Rhythmus im Dienste der Verdeutlichung des gemeinten Inhalts stehen. Ganz besonders ist das der Fall in der Gattung Oper, die ja allgemein eine klare und direkte Sprache spricht. Rückwirkend kann der Instrumentalist seine hier gewonnenen vielfältigen Erfahrungen in seiner eigenen Literatur fruchtbar werden lassen.
Kein Geringerer als der große Flötist und begnadete Pädagoge Marcel Moyse hat dies unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, wenn er in seinem bekenntnishaften Buch „The Flute and it’s Problems“ (Muramatsu, Tokyo 1973) die Summe seines reichen Musikerlebens zieht und dabei nicht müde wird zu betonen, wie er das eigentlich Essentielle seiner Laufbahn als Musiker von den großen Sängern in der Oper gelernt habe. Auch sein berühmter Notenband „Tone Development through Interpretation“ (Mc Ginnis & Marx, New York 1962, 1986) zeugt von dieser Leidenschaft für die Vorbildlichkeit der vom Gesang her bestimmten Opernliteratur für die der Blasinstrumente.
Hier nun soll der Plan, der dem genannten Notenband Moyses zugrunde liegt, weitergeführt werden. Und zwar a.) durch Opernarien, die sowohl musikalisch wertvoll als auch allgemein bekannt sind, wobei der Name Mozart für beides die wohl beste Gewähr bildet; b.) durch ihre Ergänzung zum vollstimmigen Satz, wobei die 2. Stimme wesentliche Partien der realen 1. Flötenstimme des Orchesters enthält, die hier also schon mitgeübt werden können; c.) durch genaue Textierung der 1. Stimme, die der Gesangsstimme entspricht, wobei auch der jeweilige Affekt (im Ganzen) und die Ausdruckssituation (im Detail) ganz deutlich wird; und d.) durch sorgfältige Phrasierung aller vier Stimmen mittels cresc.- und decresc.-Klammern, wobei nicht die Dynamik als solche, sondern vor allem die Intensitätsabstufungen gemeint sind. Zum Training der Ton-Bildung und der Ton-Vorstellung sollten alle geeigneten Solostimmen = Gesangsstimmen in möglichst viele verschiedene Tonarten (höher und tiefer) transponiert werden.
Der Herausgeber hofft, daß hiermit ein Weg aufgezeigt wird, der die hohe Kunst der Phrasierung, die seit den analytischen Bemühungen Hugo Riemanns um die Jahrhundertwende im Laufe der Folgezeit wieder ins Abseits der reinen Intuition geraten ist, ins klare Bewußtsein all deren treten läßt, die sich um eine musikalisch-charakteristische Darstellung der von ihnen interpretierten Werke ebenso ernsthaft wie hingebungsvoll bemühen.
Schließlich setzt die Ausgabe Bestrebungen fort, die schon in der Syrinx-Edition „Unser Muggenbuch“ eine Rolle spielten, nämlich Stücke der Weltliteratur für Flöte bzw. Flötenensemble zu adaptieren, zur Freude der Musizierenden wie auch ihrer Hörer.